Wolfgang Tomášek

 

 

 

Im Ökosystem der Ideen

 

Öko-Text

 

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Stand 1.9.2001 (1993 - ´Pan Gaia´ 6, 11/1996, S. 31-35)

 

 

 

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Zusammenfassung

 

 

 

1.  Grundannahmen: Umsatz von Energie und Stoff

 

2.  Folgerungen: Konkurrenz und Überleben im Ideen-Ökosystem

 

3.  Selbstanwendung: Koexistenz mit der logischen Nega­tion

 

 

 

Quellen

 

 

    

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Zusammenfassung: Geistige Gebilde - ">Ideen" - können als energie- und stoffumsetzende >Systeme betrachtet werden, auf die sich eine verallgemei­nerte >Ökologie anwenden läßt. Zum entscheidendes Kriterium einer solchen Betrach­tung wird die Überlebensfähigkeit geisti­ger Gebilde in ihrer >Um­welt. Sogar einander logisch wider­sprechende Ideen können im ">Ökosystem der Ideen" koexistieren.

 

 

 

 

1.  Grundannahmen: Umsatz von Energie und Stoff

 

 

Energie-

und Stoffumsatz

gei­stiger Gebilde

 

 

 

Jeder Gedanke, jede Idee, jede Wahrnehmung, jedes "geistige Gebilde", von dem wir uns überhaupt etwas mitteilen können, scheint eine Entsprechung im Mate­riellen zu besitzen. Auch das leisest ge­hauchte Wort erschüttert die Luft; der Blick fängt Lichtstrahlen auf; das geschriebene Wort erfordert Tinte, der Bild­schirm Elek­tronenstrahlen. Selbst ein Traum ist nur möglich, wenn Gehirnströme fließen; Gedächtnisinhalte werden auf kettenförmigen Rie­senmolekülen gespei­chert. Überall erscheint ein materielles Medium, fließen bei der Über­tragung von geistigen Inhalten >Energien, oft auch Stoffe, und seien die Größen­ordnungen noch so fein.

 

Hier soll nun überlegt werden, zu welchen Folge­rungen es führt, wenn man genau das in den Vorder­grund der Betrachtung stellt, was in einer geistes­wissen­schaftlichen Diskussion oft als nebensächlich gilt, nämlich das Mate­rielle - Ener­gie und Stoff. Man abstrahiert "geistige Gebilde" - "Ideen" - in dieser Sicht zunächst auf ihren Ener­gie- und Stoffumsatz in ihrer Umwelt. Im all­gemeinen Fall betrachtet man ein geistiges Gebil­de als ein ">dis­sipatives System", das heißt, als ein System mit Ener­gie­umsatz, das in seiner jeweiligen Umwelt einen gewis­sen Bestand zeigt, ein gewisses >dynamisches >Gleichge­wicht er­reicht. Man kann dann eine allgemeine Ökologie dis­sipativer Systeme, die sich nur auf die Eigen­schaften von Energie- und Stoffumsatz stützt, auf geisti­ge Gebilde anwenden. Solche Gebilde sind dann mit Wasserstru­deln, Kerzen­flammen, Gänse­blümchen, Regenwürmern zu ver­gleichen - eine zunächst viel­leicht "bescheidene" Sicht des Geisti­gen.

 

Verschiedene Arten

geistiger Gebilde

 

Schon ein Buchstabe kann als ein solches System betrachtet werden, ein Wort in irgendeiner Sprache, auch ganze Sätze und Ableitungen, Pläne, Kon­struktio­nen, Patente, wissenschaftli­che Sätze, Bü­cher, Melodien, Musikstücke - über­haupt alles, was Papier, Platten, Filme, Tonbänder bedeckt, durch den Äther schwingt, als Sprechschall die Luft zwi­schen Men­schen erschüttert. All das benötigt den Umsatz von Energien, um zu erklingen oder auf­zuscheinen, um in einem stofflichen Medium fixiert oder vervielfältigt zu werden. Die Gesamtheit aller Buchstaben "A" kann als >Population A betrachtet werden, dieses "A" hier als ein Individuum aus dieser Population. Ein einzelnes Buch kann als ein Individuum aus der Population der Bücher gleichen Inhalts gelten, gleichzeitig als >Sym­biose aus Wörtern oder Buchstaben, ähnlich wie ein vielzelliges Lebewe­sen als Symbiose von Einzellern oder sogar eine Zelle als Symbiose ihrer Be­stand­teile. Die Bibel ist zum Beispiel die Bücherart mit der größ­ten Population und ">Biomasse", gleichzeitig einer relativ langen Überlebenszeit. Und ähnlich wie die Begriffe "Pferd" oder "Veil­chen" als "Stufenbe­griffe" je nach Zusam­men­hang für ein Individuum stehen können, aber auch für die Gesamtheit aller Individuen der gleichen Art - ebenso kann man das bei geistigen Gebilden, etwa bei Melodien handhaben. Ähnlich wie für die Arten von Lebewesen kann man Verbreitungs- und Arealkarten für be­stimmte Arten geistiger Gebilde zeichnen - was ja auch oft getan wird, allerdings meist ohne ökologische Deutung.

 

Problem Abgrenzung

 

 

 

Um derart mit geistigen Gebilden umgehen zu kön­nen, braucht zunächst auf ihren inneren Aufbau und ihre inhaltliche Deutung nicht weiter einge­gangen werden. Fakten und Normen, Dichtung und Wissenschaft könn­en in gleicher Weise behandelt werden; entscheidend ist aber, daß die Gebilde abgrenzbar und identifi­zierbar sind. Die Abgren­zung verschiedener geistiger Gebilde vonein­ander könnte Schwierigkeiten machen. Man könnte zu­nächst annehmen, diese Ab­gren­zung sei schon ge­leistet; es sei evident, oder man sei übereinge­kommen, wann zwei der Gebilde als von der glei­chen Art anzusehen sind. Man könnte aber auch das Problem der Abgrenzung zum Ausgangspunkt einer Überlegung über den Informa­tionsaspekt gei­stiger Gebilde machen und damit auf ein anderes Gleis überleiten. Hier soll einer solchen Diskus­sion zunächst ausgewichen werden; auch die Definitio­nen oder Regeln dazu, wann zwei Individuen dieser geistigen Gebilde als von der gleichen oder von verschiedener Art anzusehen sind, also wann zwei Buchstaben, zwei Wör­ter, zwei Melodien, zwei Pa­tentanmeldungen gleich sind - auch sie können als dissipative Systeme betrachtet wer­den. Man braucht sie nicht von vorneherein als starr vor­auszu­setzen; sie könnten grundsätzlich den glei­chen Gesetzmä­ßigkeiten unterliegen wie die zu unter­scheiden­den Gebilde selbst und so immer wei­ter. Das Abgren­zungsproblem und der damit zusam­menhängende Informa­tionsbegriff ist zunächst ausgespart, allerdings unter Inkauf­nahme eines ">unendlichen Regresses". Wie später zu zeigen sein wird, könn­ten die folgenden Überlegungen davon unabhängig sein, ob eine >Evidenz für die Abgren­zung zweier geistiger Gebilde voneinander beansprucht wird, oder aber ein unendlicher Regreß.

 

 

 

2.  Folgerungen: Konkurrenz und Überleben

     im Ideen-Ökosystem

 

 

 

Was ließe sich aus einer Ökologie dissipativer Syste­me in der Anwendung auf geistige Gebilde folgern?

 

Ordnung und Energie

 

 

 

Auszugehen wäre vom Energie-Umsatz. Wenn die Syste­me Veränderungen in der Zeit, insbesondere Aufbau von Ordnung zeigen, dann müssen sie ei­nen Umsatz von Energie besitzen. Umgekehrt brauchen geordnete Struk­turen in einer weniger geordneten Umwelt, in der Energie umgesetzt wird, selbst Energie, um nur ihre Ordnung auf Dauer gegen Störungen aus dieser Umwelt zu erhalten. Selbst Bücher oder in Stein gehauene Schriften erliegen dem Zahn der Zeit, wenn sie nicht mit Arbeits-, das heißt Energieaufwand erhalten, ge­pflegt oder erneu­ert werden.

 

>Konkurrenz

und Ökonomie

 

 

 

 

Wenn man nicht annimmt, daß die Energie, die den betrachteten Gebilden zur Verfügung steht, unbe­grenzt ist, sondern daß immer irgendwo Grenzen auftau­chen, dann ist für die geistigen Gebilde wie für alle an­deren dissipativen Systeme eine grundsätzliche Kon­kurrenzsitua­tion in den jeweils begrenzten Energieströ­men anzu­neh­men. Die Energie, die in meinem Gehirn vom Gedan­ken A verbraucht wird, kann nicht vom Gedanken B ver­braucht werden. Die Energie zur Aus­strahlung der Fern­sehsendung X kann nicht gleichzeitig für eine Sendung Y verwendet werden. In dieser Hin­sicht verhalten sich geistige Gebilde nicht grund­sätzlich anders als etwa Flüsse mit ihren Tälern in der Konkurrenz um die Nieder­schlagsgebiete, Pflanzen in der Konkurrenz um das Sonnenlicht, Tiere in der Konkurrenz um die Jagdre­viere. Was für die Konkurrenz um die Energie gilt, gilt in etwas abgewandelter Form auch für die Konkur­renz um Stoffe, welche die Systeme zu ihrem Aufbau benötigen: Das Papier, aus dem das Buch I besteht, kann nicht gleich­zeitig für das Buch II verwendet werden.

 

Aus der grundsätzlichen Konkurrenzsituation in den Energieströmen ergibt sich ein >Ökonomieprinzip: Von zwei sonst im wesentlichen gleichen kon­kurrierenden Systemen wird sich dasjenige durchsetzen, das seinen Bestand mit weniger Ener­gieumsatz erhält bzw. in der Symbiose mit anderen Systemen, zum Beispiel den Men­schen, die gleichen Funktionen mit weniger Energie erfüllt. In der allgemeinen Perspektive dissipativer Systeme sind das Ökono­mieprinzip im geistigen Bereich und das Ökonomie­prinzip in der Ökologie der Lebewesen zwei Anwendungen des gleichen Prinzips auf ver­schiedenen Gebieten, auch wenn es nicht in jedem Fall leicht sein dürfte, den Sieg der in der Summe jeweils spar­sameren Variante im Detail plausibel zu machen. Daß aber auch bei geistigen Gebil­den ein Ökono­mieprin­zip gilt, läßt sich schon aus ele­mentaren Beobachtungen vermuten: In der Sprache setzen sich Abkürzungen durch; wissen­schaftli­che Ab­handlungen besitzen dann die größten Veröf­fent­lichungs­schancen, wenn sie dem Leser die mei­ste Zeit zur Lektüre anderer Abhandlungen erspa­ren - und ähnliches mehr.

 

>Evolution

geistiger Gebilde

 

 

 

Jedes dieser geistigen Gebilde besitzt in dieser Sicht eine eigene Evolution, also eine länger­fristige Entwicklung in Wechsel­beziehung zu den anderen dissipativen Ge­bil­den seiner Umwelt, seien es andere geistige Gebilde im engeren Sinn oder >techni­sche Systeme oder Lebe­wesen oder sonstige dissipative Systeme. Jedes dieser Gebilde beeinflußt durch seinen >Ressour­cenverbrauch und seine Abfälle seine Umwelt, im Extrem bis hin zu grundle­gender Veränderung, wenn es dominant in seinem Kon­kur­renzfeld auftritt. Wenn sich zwei geistige Gebilde nur in einer kleinen Einzelheit ihres Selbsterhal­tungspro­gramms unter­scheiden, die das eine der beiden Systeme zu Wachstum oder Vermehrung be­fähigt, dann wird dieses Gebilde die größeren Chancen von beiden haben, in Zukunft auf­zutreten. Im allgemeinen Fall müßten also geistige Gebilde zu Wachstum oder Vermehrung neigen - ähnlich wie lebende Gebilde.

 

 

 

 

Und ähnlich, wie zufällige, kleine, bleibende Ab­wei­chungen (>Mutationen) die Überlebens- und Fortpflanzungschancen von Tier- und Pflanzenar­ten verbessern können, ebenso können solche Mutationen die Existenzmöglichkeiten für geistige Gebilde in einer grundsätzlich veränderlichen Um­welt verbessern. Man kann erwarten, daß sol­che Mutatio­nen auch bei geistigen Gebilden ver­breitet sind. Das bedeutet, daß allgemeine Aussa­gen einer Evolutions­theo­rie, die sich aus der Grundannahme von Mutation und >Selektion ergeben, auf geistige Gebilde als dissipati­ve Systeme an­wendbar sind: Auch für die geistige Welt gilt die allgemeine Tendenz zur Differenzierung; auch hier laufen >Sukzessions- und Reifungsprozesse ab; auch hier gibt es >Klimaxstadien mit dynamischen Gleichge­wichten. Bisher wurde in der Literatur häu­figer von "Analo­gien" oder "bloßen Analogien" zwischen der Evolu­tion der Lebewesen und der Evolution der Ideen gespro­chen. Wenn man aber die Begriffe allgemein genug definiert, etwa vor dem Begriffs-Hintergrund des "dis­sipativen Systems" - dann sind es die gleichen Gesetz­mäßig­keiten, die für beide Evolutionen gelten.

 

Populationsökologie

bei geistigen Gebilden

 

Auch Aussagen der Ökologie über Populationen, über >Nahrungsketten und >Tro­phiestufen lassen sich auf Ideen anwen­den, auch wenn es für manche ungewohnt ist, die gegenseitigen Bezie­hungen der Ideen in ihrer Umwelt, den Gehirnen oder technischen Me­dien so zu deuten. Schwin­gungserscheinungen und dynamische Gleichgewich­te zwischen einander wider­sprechenden und gleichzei­tig ökologisch ergänzenden Ideen können vermutlich ähnlich simuliert werden wie Schwingungserschei­nungen und Gleichgewichte zwi­schen Produzenten, Konsumen­ten und Reduzenten oder etwa zwischen einer Räuber- und einer Beutepopula­tion in der Ökologie der Lebewesen. Der "Pendelschlag der Geschichte" kann als das gleiche Grund-Phäno­men gedeutet werden wie die Popu­lations­zyklen von Lebe­wesen.

 

Überleben

geistiger Gebilde

in bestimmten Umwel­ten

 

 

 

Menschen - selbst komplexe dissipative Systeme - dürften sich zu ihrer eigenen Erhaltung im allge­meinen nur der Symbiose mit Ideen bedienen kön­nen, die ihnen Ü­berlebensvorteile gegenüber ihren Konkurrenten bieten. Anderenfalls liefen sie Ge­fahr, überflüssige Energiever­luste bei den steuern­den Energieströmen zu erleiden, so daß ihre menschlichen Konkurrenten mit wirkungsvollerer Steuerung sie unterlaufen und aus dem gemeinsam genutzten Energiestrom drängen kön­nen. Wenn nun eine große Anzahl von Menschen aus der Symbiose mit einer bestimm­ten Idee, zum Beispiel dem >En­tropiesatz mit seiner Folgerung "ein >Perpetuum mobile ist nicht möglich" Überlebens- und Vermeh­rungsvorteile gewinnt, so könnte es durchaus sein, daß ein gewisser anderer Prozentsatz von Men­schen gerade aus dem Gegenteil - "ein Perpe­tuum mobile ist doch möglich" - Über­lebensvorteile be­zieht. Das könnte etwa bedeuten, daß diese Men­schen in ihrer Umwelt, die selbstver­ständlich auch die jeweiligen Andersdenkenden, also hier die An­hänger des Entropie­satzes enthält, ihre Energien ökonomischer einsetzen können, um zum Beispiel ihre Konkurrenten zu bekämpfen oder eine größere Widerstandskraft gegenüber störenden Einflüssen, eine wirkungsvollere Ver­mehrung oder bei reichli­chem Ressourcen-Angebot ein steileres Wachstum zu erreichen. Solche Menschen müßten im Prinzip eine eigene Physik und Ökologie mit der Möglich­keit des Perpetuum mobile und einem andersartigen Zeitbegriff entwic­keln.

 

Stabile Vielfalt

 

Wir erhalten schließlich ganz allgemein eine Vielfalt von Ideen, die jeweils für einen gewissen Teil der Men­schen (künftig wohl auch mehr und mehr der tech­nischen Systeme), aber nicht für alle optimal sind. Diese Ideen widersprechen oder fördern sich gegenseitig, ähnlich wie konkurrie­rende und kooperie­rende Arten in einem natür­lichen Ökosystem oder kon­kurrierende und koope­rieren­de Berufe in einer kom­plexen Gesell­schaft. All­gemein vom "Ökosystem der Ideen" zu sprechen ist dann nur ein kleiner Schritt weiter.

 

Wahrheit

und Überle­ben

 

 

 

Und nun können wir fragen, ob sich in einem Öko­sy­stem der Ideen übergeord­nete Kriterien auf­stellen lassen, sich zwischen verschiedenen Ideen, in der Wissenschaft zwischen verschiedenen Model­len oder Theorien zu entscheiden. Brauchen wir Begriffe wie "Wahrheit" oder "Gültigkeit", wenn damit mehr gemeint sein soll als relativ erfolgrei­che Selbsterhaltung und Selbstverstärkung im Ideen-Ökosystem? Was würde zusammenklappen, wenn wir solche Begriffe als ab­solute Begriffe fal­lenlassen, wie es schon die alten Sophisten getan haben? - "Wahr­heiten" oder "allge­meingültige Geset­ze" wären dann einfach Ideen, die in Symbiose mit den Wörtern "all­gemeingültig" oder "wahr" stehen und sich in einer bestimmten Umwelt als besonders vital zeigen. Es könnte auch sein, daß manche, scheinbar allgemeingültige Ideen eine sehr lange Überlebenszeit haben und dann doch einmal aus­sterben, wie es der Mehrzahl aller Organis­menarten gegangen ist. Gerade dominante Ideen, etwa die >Hauptsätze der >Ther­modynamik, könnten ihre Um­welt schließlich so verändern, daß sie ihre eigenen Über­lebens­möglichkeiten beschrän­ken oder sogar vernichten. Kurzfristige Über­lebens­vorteile für Ideen könnten sich im einzelnen längerfristig als verderblich erweisen, ähnlich wie für Organismen­arten im Lauf der Evolution.

 

 

 

3.  Selbstanwendung:

     Koexistenz mit der logischen Nega­tion

 

 

Ökologische Relativität

 

 

 

Jeder Versuch, nun eine derartige "Über­lebens->Onto­logie" für Ideen so zu fassen, daß sie doch wiederum so etwas wie eine übergreifende Gültig­keit bean­sprucht, könnte damit be­antwortet werden, daß man den ökologi­schen Ansatz auch hierauf anwendet und die kaum widerlegbare Unter­stellung macht, daß diese scheinbar übergreifende Gültig­keit nur so lange bestehen kann,  als sie in ihrer Umwelt, vor allem in der jeweiligen Symbiose mit den entsprechenden Menschen oder techni­schen Systemen überlebt. Diese Vorhaltung ist aus der Ideologie-Diskus­sion in den Sozialwissenschaften be­kannt; sie läßt sich auch gegen physikalische oder ökologische Aussagen vorbringen. Zugespitzt aus­gedrückt: Eine physi­kalische Theorie wäre im Kon­text des Ideen-Ökosystems im Prinzip von Propa­ganda ununterscheidbar. Auch eine Idee, die scheinbar "über den Dingen" steht, etwa die Idee des Ökosystems der Ideen, wäre interessengebun­den, auf Selbstverstärkung angewiesen, hätte in ihrer Umwelt, in der Symbiose mit anderen Syste­men zu überleben. Weil ich ganz bestimmte Inter­essen habe, schreibe ich diesen Aufsatz. Wenn ich andere Interessen hätte, würde ich even­tuell den Gedanken des Ideen-Ökosystems weit von mir weisen oder gar keinen Aufsatz schreiben.

 

Anwendung

auf sich selbst

 

 

 

Konsequenterweise müßte sich dieses Denkschema aber auch ausdehnen lassen auf Ideen, die das Ge­gen­teil des eben Gesagten behaupten, nämlich daß es doch eine allgemei­ne, nicht interessenbezogene Gültig­keit gibt. Damit wären wir wieder bei einem unendli­chen Regreß wie am Anfang der Überlegun­gen ange­langt. Und wir könnten diesen unendlichen Regreß dazu benutzen, um die An­fangsfrage nach der Definition von gleich und verschie­den aus den Angeln zu heben. Wer schon anfangs nicht mitge­gangen ist und einen solchen unendlichen Regreß, dieses "Schweben", abgelehnt hat, der bekommt jetzt nachträg­lich recht, aber in einem anderen Sinn, als er vielleicht erwartet: "Stampfe nur auf deine feste Grundla­ge, lieber Realist", schmunzelt der Ideen-Ökologe; "ich kann sie immer auch als schwebend betrachten und dich mit ihr." "Schwebe und strample nur im Leeren, lieber Ideen-Ökologe; ohne eine feste Grundlage für unsere Kom­munika­tion könntest du mir gar nicht sagen, was 'Schwe­ben' ist"; wir hätten kein gemeinsames Wort dafür. - Beide könnten recht haben; keiner könnte den anderen auf seine Seite ziehen ...

 

 

>Koexistenz

mit logischer Negation

 

Die Idee des Ideen-Ökosystems und die davon ab­geleite­ten Ideen wären also mit ihrer logischen Nega­tion ökolo­gisch koexistenzfähig, auch wenn die Fähig­keit zur Koexistenz mit der jeweiligen Nega­tion nicht auf Gegen­seitig­keit zu beruhen bräuch­te. Dies wäre ein Ansatz zu einer Relativierung der Logik. Wider­sprüche wären auch in der Wissen­schaft der Normal­fall, Wider­spruchsfreiheit der Grenz­fall. Eine Koexi­stenzfähigkeit mit der eigenen Negation könnte in bestimmten Umwelten sogar die Über­lebensfähigkeit von Ideen fördern, ähnlich wie Koexistenz­fähigkeit die Über­lebens­fähigkeit von politischen Systemen.

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde angeregt von:

 

 

 

Amery, C.: Natur als Politik.

     Reinbek: Rowohlt 1976

 

Blackburn, Th. R.: Information and the ecology of scho­lars.

     Science 181, 1973, S. 1141-1146

 

Eigen, M.; Winkler, R.: Das Spiel.

     München, Zürich: Piper 1975

 

Feyerabend, P.: Erkenntnis für freie Menschen.

     Frankfurt: Suhrkamp 1980

 

Hass, H.; Lange-Prollius, H.: Die Schöpfung geht wei­ter.

     Stut­gart-De­gerloch: See­wald 1978

 

Koenig, O.: Biologie der Uniform.

     In: Ditfurth, H. von (Hrsg.): Evolution.

     Hamburg: Hoffmann & Campe 1975, S. 175-211

 

Lorenz, K.: Die Rückseite des Spie­gels.

Mün­chen: Piper 1975

 

Odum, E. E.: The emergence of ecology as a new integra­tive discipli­ne.

Science 195, 1977, S. 1289-1293

 

Vollmer, G.: Evolutionäre Erkenntnis­theorie.

Stuttgart: Hirzel 1975

 

Wesley, J. P.: Ecophysics.

Springfield (Illinois): Thomas 1974

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Begriffe, wie sie hier verwendet werden

 

 

 

Biomasse = Masse aller lebenden Indivi­duen einer >Population oder eines ganzen >Ökosy­stems

 

dissipatives System = energieumsetzen­des, deshalb gemäß >Entropiesatz Energie zer­streuendes >dynamisches System. Ein dynamisches Sy­stem, das längerfristig in einem dyna­mischen Gleichgewicht blei­ben soll, muß mit seiner >Umwelt >Ener­gie austauschen.

 

dynamisches Gleichge­wicht = ein in ge­wissen Grenzen (z.B. abgesehen von geringen Schwan­kungen) gleichbleibender Zustand eines >dynamischen Systems. Beispiele: Ein rund laufender Motor, ein Wasserfall, ein gleichmäßig fliegen­der Vogel.

 

dynamisches System = >System mit Ver­änderun­gen in der Zeit

 

Energie = Fähigkeit eines dy­nami­schen Sy­stems, Arbeit zu leisten. Einer der Grundbegriffe der Phy­sik

 

Energie-Erhaltungssatz = Satz von der Erhaltung der Energie und damit der Un­möglichkeit eines Perpetuum mo­bile 1. Art (einer Maschine, die aus nichts Energie erzeugen kann). Gleichbedeutend mit der Annahme der Gleichförmigkeit der Zeit. Auch "Erster Hauptsatz der Thermodyna­mik" genannt.

 

Entropie = wissen­schaftliches Maß für >Ordnung und Unordnung eines >Sy­stems.

 

Entropiesatz = "Zwei­ter Hauptsatz der Ther­mo­dyna­mik", Satz von der Unum­kehr­barkeit der Zeit - unter gängi­gen Bedin­gungen; gleichbedeutend mit der Unmög­lich­keit, Ord­nung ohne En­er­gie­ein­satz zu schaf­fen, ins­be­son­de­re der Un­möglichkeit, ein "Per­pe­tuum mobi­le" 2. Art zu bau­en - eine Ma­schi­­ne, die ohne Rei­bung läuft. Der En­tropie­satz wird in ver­schie­denen Sprich­wör­tern aus­ge­drückt, z.B.: "Der Krug geht so lan­ge zum Brun­nen, bis er bricht".

 

Evidenz = unmittelbares Einleuchten

 

Evolution = Entwick­lung, insbesondere Entwicklung der >dissipativen (bzw. leben­den) >Systeme auf der Erde in gegen­seitiger Beeinflussung und unter Verände­rung der inneren >Struktur

 

Gleichgewicht = Zustand eines Systems, das sich - in gewissen Grenzen - in der Zeit nicht ändert. Ein statisches Gleich­ge­wicht kann ohne Ener­gieumsatz erhalten wer­den, ein >dynamisches Gleichgewicht nur mit Energieumsatz.

 

Hauptsätze der Thermodynamik = >Ener­gie-Erhaltungs­satz und >En­tropiesatz.

 

Idee = (hier) mitteilbares geistiges Gebilde - auch als ein Stück >Information deutbar

 

Klimax = Endzustand einer Entwicklung im >dynamischen Gleichge­wicht, zum Beispiel bei der natürlichen Bewal­dung einer Bodenflä­che

 

Koexistenz = Nebenein­ander-Existieren zweier >dissipativer, insbesondere lebender Systeme

 

Konkurrenz = das Beanspruchen der glei­chen >Ressource durch zwei oder mehre­re lebende Systeme.

 

Mutation = Erschließen von Möglichkeiten durch kleinste Verän­derungen, insbeson­dere in der >Evo­lution

 

Nahrungskette = Weg der (Sonnen)energie durch die Lebewesen eines >Ökosystems

 

Ökologie = Wissen­schaft von den Wech­selwir­kungen, insbe­sondere dem Stoff- und Energieaustausch le­bender, allgemein >dissipativer >Systeme mit ihrer >Umwelt, verall­gemeinert Wissen­schaft von den >Ökosystemen

 

Ökonomieprinzip = der Grundsatz, daß unter zwei um die gleichen >Ressourcen kon­kurrie­renden, sonst im wesentlichn gleichen Lebewesen  bzw. >dis­sipativen Systemen das stoff- und energiespar­sa­mere größere Überlebenswahrscheinlich­keit hat

 

Ökosystem = Wirkungs­gefüge aus Lebe­wesen, unbelebten natürlichen sowie ggf. auch techni­schen Bestandteilen, die unterein­ander und mit ihrer >Umwelt in Wech­sel­wir­kung stehen, ins­besondere >Energie und Stoffe austau­schen.

 

Ontologie = Versuch, aus dem reinen Sein eines Gegenstandes Erkennt­nisse abzuleiten

 

Perpetuum mobile = (lat.: "ewig beweg­lich") eine Maschi­ne, die ent­we­der Energie aus nichts schafft - Per­pe­tuum mobile 1. Art, oder ewig ohne Reibung läuft - Perpe­tuum mobile 2. Art. Ersteres wi­der­spricht dem >Ener­gie-Er­hal­tungssatz, zweiteres dem >En­tropie­satz, also den >Haupt­sät­zen der Ther­modynamik. Beide können dem­nach - in gängigen Bereichen der Physik - grund­sätzlich nicht exi­stie­ren

 

Population = Gesamt­heit aller Individuen einer Art in einem bestimmten Raum bzw. >Ökosystem

 

Regreß, unendlicher = immer wieder auf sich selbst verweisende Denkfigur (z.B. bei der Frage, was "vor der Entstehung der Welt" war).

 

Ressourcen = Energie, Rohstoffe, Boden und andere Grundlagen für die Existenz eines leben­den Systems, insbeson­dere menschlicher Gesellschaften.

 

Selektion = Auslese, Vernich­tung von Möglichkei­ten, insbesondere in der >Evo­lu­tion. Gegensatz: >Mutation

 

Sukzession = Entwick­lung einer >Land­schaft oder eines >Ökosystems bis zu einem (relati­ven) >Gleich­gewicht, z.B. die allmäh­liche Wiederbewaldung einer Brachfläche

 

Symbiose = Zusammen­wirken zwischen zwei oder mehreren lebenden, allgemein >dis­sipativen >Systemen zu gegenseitigem Vor­teil - meist als ge­gen­seitiger Austausch von Stoffen und Ener­gien dar­stellbar.

 

System = Gesamtheit von Elementen, die unterein­ander, bei offenen Sy­stemen auch mit ihrer >Umwelt, in Beziehung stehen.

 

System, dissipatives = energieumsetzen­des, deshalb gemäß >Entropiesatz Energie zer­streuendes >System

 

System, dynamisches = >System mit Ver­änderun­gen in der Zeit

 

technisches System = planmäßig herge­stellter Gegenstand: Bauten, Leitungsnet­ze, Geräte, Maschinen, Automaten, Robo­ter, auch Computerprogramme

 

Thermodynamik = Wärme­lehre, heute z.T. auch ver­all­gemei­nert auf alle Anwendun­gen des >En­tropie­satzes.

 

Trophiestufe = Stellung eines Lebewesens im Strom der Nahrungsenergie durch ein >Ökosystem (insbesondere z.B. sonnen­lichtaufnehmende Pflanzen, Pflanzenfres­ser, Räuber, Schmarotzer, Abfallverwerter)

 

Umwelt = Im allgemei­nen Sinn = Ge­samt­heit aller Systeme, die mit ei­nem bestimm­ten Sy­stem in Beziehung ste­hen. Im engeren Sinn = die Ge­samt­heit der natürlichen Systeme, die mit der mensch­li­chen Zivilisa­tion in Beziehung stehen, also Ge­stein und Boden, Gewässer, Luft­hül­le, Pflan­zen- und Tier­welt.

 

Unendlicher Regreß = immer wieder auf sich selbst verweisende Denkfigur (z.B. bei der Frage, was "vor der Entstehung der Welt" war).